9. November 2009

I remember the 9th of November



Am 9. November jährt sich der Gedenktag an die Novemberpogrome aus dem Jahr 1938 nun zum 71. Mal. Das Gedenken scheint jedoch, gerade im zwanzigsten Jahr nach der Wiedervereinigung, immer stärker vergessen zu werden. Ein Aufruf zum aktiven Gedenken von Maximilian Pichl

Am 7. November 1938 wurde der deutsche Botschaftsangehörige Ernst von Rath in Paris durch einen Schuss aus einer Waffe ermordet. Abgedrückt hatte der aus Polen stammende Jude Herschel Grynspan, nachdem er erfahren hatte, dass seine gesamte Familie aus Polen in das Lager Zbąszyń abgeschoben wurde. Zwei Tage später brannten in ganz Deutschland Synagogen, jüdische Geschäfte wurden geplündert und viele jüdische Bürger_innen ermordet. Das Propagandaministerium um Joseph Goebbels nutzte das Attentat in Paris, um die deutsche Öffentlichkeit gegen die Juden aufzuwiegeln und die Massenausschreitungen anzustacheln. Die sogenannten Novemberpogrome waren jedoch keine spontane Reaktion, die sich lediglich gegen das Attentat richteten. Vielmehr müssen die Pogrome in ihrem historischen Kontext betrachtet werden, um klar zustellen, wie stark der Antisemitismus in der deutschen Bevölkerung bis dahin gediehen war.

    Deutschland einig antisemitisch

Die Pogrome des 9. November 1938 sind Teil einer antisemitischen und antijudaistischen Tradition, die sich in Deutschland immer stärker verfestigt hatte. Gerade in Deutschland hatte sich nämlich ein moderner Antisemitismus im öffentlichen Diskurs verankert, der die Juden in den Fokus der nationalsozialistischen Politik rücken ließ. Als die Nazis 1933 an die Macht kamen, verabschiedeten sie in einer rasanten Schnelligkeit diverse antijüdische Gesetze. Durch das Gesetz zur „Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ wurden Juden „frühzeitig“ in den Ruhestand versetzt, jüdischen Ärzt_innen wurden an der Ausübung ihres Berufs gehindert und durch die Nürnberger Gesetze verloren die Juden ihre politisch-gesellschaftlichen Rechte. Zeitgleich wurden die Konzentrationslager in Dachau und Buchenwald stetig ausgebaut. Die nationalsozialistische Politik hatte von Anfang an die schrittweise Ausgliederung des jüdischen Lebens aus der deutschen Gesellschaft im Visier. Zunächst sollten die Juden jedoch „freiwillig“ dazu angehalten werden das deutsche Reich zu verlassen, weshalb zwischen 1933 und 1937 ca. 130.000 Juden ausgewandert waren. Die Auswanderungsrate erschien den Nazis jedoch nicht hoch genug, weshalb die NSDAP gezielte Abschiebungen von Juden organisierte. Auch andere Länder schloßen sich Deutschland in dessen antijüdischer Politik an. Polen erließ 1938 ein Gesetz zur faktischen Ausbürgerung der polnischen Juden. Vor diesem Hintergrund muss auch das Attentat von Herschel Grynspan in Paris gesehen werden.

Unter der deutschen Bevölkerung war 1938 ein offensiver Antisemitismus daher gesellschaftlich fest verankert und das Attentat bot eine hervorragende Gelegenheit, um den angestauten Hass auf die Juden Luft zu machen. In der Nacht vom 09. auf den 10. November waren fast alle Einheiten der Gestapo (Geheime Staatspolizei), der SA (Sturmabteilung) und der SS (Schutzstaffel) mobilisiert, um gezielte Zerstörungsaktionen gegen jüdische Einrichtungen zu koordinieren. Der Auftrag an die deutschen Einheiten war klar formuliert, wie aus Dokumenten der SA hervorgeht:

„Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sind sicherzustellen. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen. Es sind nur Wohnhäuser arischer Deutscher zu schützen, allerdings müssen die Juden raus, da Arier in den nächsten Tagen dort einziehen werden. (…) Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen.(Auszug aus einem Protokoll der SA-Nordsee)“

Das Ergebnis dieser antisemitischen Hetze waren über 7000 zerstörte jüdische Geschäfte, 1400 in Brand gesetzte Synagogen und über 400 ermordete Menschen, wobei in den Wochen danach weitere 500 Juden durch ihre Verletzungen oder Suizid starben. Aber nicht nur die bewaffneten Einheiten der NSDAP hatten sich an den Mordaktionen beteiligt. Auch große Teile der deutschen Zivilbevölkerung schlossen sich den Pogromen an, warfen Steine in jüdische Geschäfte und lieferten fliehende Juden der SA aus. Für die deutsche Bevölkerung waren die Pogrome auch ökonomisch lukrativ, da viele jüdische Geschäfte arisiert und jüdische Besitztümer zu Spottpreisen an Deutsche verhökert wurden. Die Novemberpogrome fanden unter den offenen Augen der deutschen Gesellschaft statt, wurden von dieser akzeptiert und mitgetragen und Tötungen an Juden wurden legitimiert. Damit hatte der deutsche Antisemitismus eine weitere Grenze überschritten: die körperliche Unversehrtheit von jüdischen Menschen war nun dauerhaft in Frage gestellt und der Antisemitismus hatte sich zu einem eliminatorischen Antisemitismus weiterentwickelt.
Nicht umsonst hat Wolfgang Benz festgestellt:

„Mit keinem andern Ereignis hat das NS-Regime so zynisch demonstriert, daß es auch auf den Schein rechtsstaatlicher Tradition nun keinen Wert mehr legte. Antisemitismus und Judenfeindschaft, wie sie als Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie schon immer propagiert worden waren, schlugen jetzt um in die primitiven Formen physischer Gewalt und Verfolgung. Die „Reichskristallnacht“ bildete den Scheitelpunkt des Wegs zur „Endlösung“, zum millionenfachen Mord an Juden aus ganz Europa.“

    Deutschland im Jahr 2009: Jubel am Gedenktag

Über 70 Jahre danach wird das Gedenken an die Novemberpogrome immer stärker an den Rand gedrängt. Mit dem Fall der Mauer am 9. November 1989 wird der 9. November in der heutigen Debatte vielmehr als ein Freuden- und Jubeltag angesehen, ob des Zusammengehens der beiden deutschen Staaten. Auf den Straßen wird man bei den Wendefeierlichkeiten fahnenschwenkende deutsche BürgerInnen sehen, denen es wohl gar nicht in den Sinn kommen würde an einem solchen Tag an die zahllosen Opfer der Pogrome und der Shoa zu gedenken. In diesen Diskurs passt auch der immer wiederkehrende Vorschlag den 9. November zum Nationalfeiertag zu erklären. Die BefürworterInnen eines solchen Feiertages sagen, dass die deutsche Geschichte eine wechselvolle sei und man mit dem 9. November einen Tag finden würde, der genau diese ambivalenten Seiten vereinigen würde. Es wäre jedoch auch gegenüber den Opfern und der historischen Bedingtheit der Novemberpogrome unwürdig den 9. November als Nationaltag festzulegen, denn schaut man sich die deutschen Zustände an, dann wird klar, dass die ausgelassene Feierei das stille Gedenken stets überwiegen würde. Vielmehr müssen wir als Generation darauf hinwirken, dass das Gedenken um den 9. November wach gehalten wird. In einigen Jahren wird es gar keine Zeitzeugen mehr geben, die über die Pogrome und die Shoa berichten können und es wird in der Verantwortung der jungen Generation liegen, dass trotzdem die Erinnerung nicht der Deutschland Wiedervereinigungsparty weichen muss. Die Auswirkungen der Novemberpogrome spüren wir noch heute. Es sind die Städte, in denen es keine jüdischen Gemeinden mehr gibt, in denen jüdisches Leben aus dem Alltag verschwunden ist. Die Pogrome zeigen auch heute noch auf, in welchem Zustand die deutsche Gesellschaft damals war und dass eben nicht nur aktive Naziparteimitglieder sich an der Vernichtungsmaschinerie gegen die Juden beteiligt haben, sondern dass gerade auch die deutsche Zivilbevölkerung für die Taten verantwortlich zeichnet. Eine antifaschistische Politik muss sich diesem Thema widmen, um antisemitische Tendenzen im Hier und Jetzt zu bekämpfen- gerade auch in der linken Szene. Denn es war die linke Zelle „Tupamaros“ die 31 Jahre nach den Novemberpogromen eine Bombe im Jüdischen Gemeindehaus Westberlin platziert hatte.

Maximilian Pichl war von 2008 bis 2009 im Bundesvorstand der GRÜNEN JUGEND und ist Stipendiat der Heinrich-Böll-Stiftung.



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